02 Jun Sicherheitsabstand beim Überholen? Fehlanzeige
Am 28. April trat die Straßenverkehrs-Novelle in Kraft. Seit dem müssen Autos beim Überholen einen Abstand von min. 1,5m zu Radfahrenden halten. Ist dieser Platz nicht da, müssen Autos dahinter bleiben. Eigentlich. Tatsächlich interessiert das nur die Wenigsten.
Letzten Dienstag hatten HannovAIR Connection und Parents for Future Hannover zur Mitfahrt aufgerufen. Vom Goetheplatz aus auf einer Route durch die Innenstadt zum Steintor fahren und dabei mit den berühmten „Poolnudeln” auf die neuen Abstandsregeln hinweisen. Das war die Idee.
Treffpunkt am Goetheplatz. Lastenräder, Pedelecs und Poolnudeln.
Es ist eine gemischte Gruppe, die sich bis 11 Uhr am Goetheplatz trifft. Radfahrende von VCD, ADFC, Parents mit Lastenrad und Kindern, Liegeradfahrer, sowie HannovAIR Mitglieder sind dem Aufruf gefolgt. Rund 15 Leute kommen bei strahlendem Sonnenschein zusammen, Pressevertreter sammeln erste O-Töne. Um kurz nach 11 geht es entspannt und ein bisschen gespannt los.
Erste Engstelle schon nach 10 Metern
Die erste Probe für den Abstand kommt früher als wir wohl alle gedacht hätten; noch im Kreisverkehr des Goetheplatzes ist aktuell eine Baustelle eingerichtet und verengt die Fahrbahn für Autos stark. Die meisten Autos fahren mit etwas Abstand zu den Baustellenbaken, links und rechts der Fahrbahn und schneiden dabei auch immer wieder über den aufgemalten Radstreifen. Als wir mit den angebrachten Poolnudeln durch die Engstelle fahren, bleibt ein Transporter nur knapp vor der Engstelle stehen. Offenbar ist dem Fahrer das Überholmanöver in der Baustelle dann doch noch zu eng. Schon wenige Meter später, auf der Goethestraße, ist seine Geduld wohl erschöpft, vorsichtig und an der äußersten linken Bordsteinkante der Fahrbahn schiebt er sich an den Radfahrenden vorbei. Ein nachfolgender weißer SUV ist rabiater, unbeeindruckt von den Poolnudeln fährt er ungebremst in seiner Fahrspur weiter, schiebt einige Nudeln mit der Karosse beiseite und schießt vorbei. Nur um an der nächsten roten Ampel neben uns zu stehen. Vorausschauendes Fahren sieht anders aus. Rücksichtsvolles und regelkonformes Fahren erst recht.
Den gültigen Sicherheitsabstand beim Überholen halten beide Fahrzeuge nicht ein; können sie auf dieser Straße auch gar nicht. Hinter uns bleiben, das wollen sie aber auch nicht.
Keine fünf Minuten unterwegs, schon die ersten, engen Überholmanöver.
Dieser SUV schiebt beim Überholen einfach die Poolnudeln beiseite. An der roten Ampel steht er dann neben uns.
Ausreichend Abstand am Steintor dank leerer Busspur
Wir fahren auf der Goethestraße weiter in Richtung Steintor und biegen nach rechts auf die Kurt-Schumacher-Straße. ab. Das verläuft auf der breiten Busspur überraschend gut. Die meisten Autos halten viel Abstand. Vor allem aber fällt auf, dass fast keine Autos unterwegs sind. Ob der wenige Kraftverkehr zum vergleichsweise entspannten Verhalten der Autofahrenden beiträgt?
Wenige Autos und eine breite Busspur. Am Steintor lässt sich an diesem Vormittag gut fahren.
Am Hauptbahnhof biegen wir auf den Ernst-August-Platz ein und überqueren ihn von West nach Ost um anschließend durch den Fernroder Tunnel nach Norden zu fahren. Hier gibt es als „Radverkehrsanlage” nur einen knapp 80cm breiten Radfahrstreifen auf beiden Seiten der Fahrbahn, die Regengosse mitgerechnet. Hinzu kommt, dass der kurze Tunnel nicht beleuchtet und selbst bei Sonnenschein vergleichsweise dunkel ist.
Überholen um jeden Preis
Überholen von Radfahrenden sollte aus diesen Gründen hier also definitiv tabu sein, zumal in beiden Fahrtrichtungen gleich nach dem Tunnel auch schon wieder mehrere Ampeln kommen. In der Vergangenheit ist es hier schon mehrfach zu Zusammenstößen von Autos mit Radfahrenden gekommen. Der gerade wiedereröffnete Tunnel zwischen Königstraße und Thielenplatz ist dank neuer Deckenfarbe und Beleuchtung zwar deutlich heller, breiter als im Fernroder Tunnel sind die „Radverkehrsanlagen” aber auch hier nicht.
Am Ernst-August-Platz biegen wir ab. Das Auto muss trotzdem noch schnell vorbei…
Der neue Tunnel in Richtung Thielenplatz. Hell. Aber eng. Zu eng.
Am Thielenplatz biegen wir links in die Lavesstraße ein. Auch hier gibt es relativ neue „Radinfrastruktur”. Leider sind die Radfahrstreifen hier ebenso eng wie in den Tunneln. Erschwerend kommt hinzu, dass sie in beiden Fahrtrichtung komplett in der Türzone der parkenden Autos verlaufen. Wenn wir hier den Abstand zur Türzone einhalten wollen, fahren wir links neben der roten Farbe. Das ist dann meist der Moment, wo herannahende Autos zu Hupen beginnen und die Fahrzeugführer beim überholen wild gestikulierend auf die rote Farbe zeigen. Aber wir haben Glück, von hinten kommt kein Auto. Coronabedingt ist an diesem Vormittag wirklich wenig Autoverkehr auf Hannovers Straßen unterwegs.
„Halt die Fresse”
Dafür widmet hier in der Lavesstraße ein besonders kreativer Autofahrer den Radfahrstreifen kurzerhand um: mit Warnblinker darf man schließlich überall parken. Von einer teilnehmenden Radfahrerin kurz angesprochen, ob er wisse, dass er hier eben nicht halten darf, entgegnet der Mann mit einem kurzen: „Halt die Fresse”. Zeugen? Fotografin? Journalisten? Interessiert den Autofahrer alles genau so wenig, wie die Tatsache, dass ca. 10 Meter weiter ein Parkplatz frei ist.
Lavesstraße: Gegen so dreiste Falschparker nützt Farbe nichts.
Über die Berliner Allee und die Marienstraße fahren wir zurück ans Aegi. Auf den dortigen Radwegen haben wir zwar keine Probleme mit überholenden Autos, die Poolnudeln zeigen aber auch hier, dass die Radwege eigentlich viel zu schmal sind. Vor allem, wenn sie mal wieder, wie so häufig, in der Türzone verlaufen. Das ist nicht nur in Corona-Zeiten gefährlich. Ein sicheres Überholen langsamerer Radfahrender durch schnellere ist auf so wenig Platz ebenfalls kaum möglich. Eine Gefährdung geht somit nicht vom Verhalten einzelner Individuen aus. Sie ist der schlechten Infrastruktur geschuldet und damit Systembedingt. Dieses System muss die Stadt ändern. Wir brauchen eine andere Art von Infrastruktur für sicheres, komfortables Radfahren.
Pop-Up-Radwege für Corona-Abstand? Geht in Hannover nicht
Wie war das nochmal mit Pop-UP-Radwegen? Nicht in Hannover. In Berlin macht es die Verwaltung einfach – mit Verweis auf die Straßenverkehrsordnung. In München hat der Stadtrat gerade fünf Pop-Up-Radwege beschlossen – zu Lasten des Autoverkehrs. In Hannover hält die Verwaltung sie für rechtlich unzulässig. Haben wir in Hannover eine andere Straßenverkehrsordnung als der Rest der Republik?
Berliner-Allee: Auf der Straße wäre Platz für einen Pop-up Radweg
Türzone auf der Marienstraße.
Über die Schmiedestraße fahren wir schließlich zurück zum Steintor, dem Ende unserer Poolnudel-Abstandsfahrt. Unser Experiment hat gezeigt, dass die vorhandenen Radspuren an vielen Stellen ein sicheres Überholen durch Kraftfahrzeuge überhaupt nicht ermöglichen. Nur stört das die meisten Autofahrenden auch gar nicht. Und die Abstände zu anderen Radfahrenden, um Ansteckungen zu vermeiden? Das klappt leider auch nicht. Aus den gleichen Gründen.
Aufklärung der Autofahrenden und Pop-Up-Radwege an großen, mehrspurigen Straßen könnten hier helfen. Pop-Up-Radwege sind ein gutes und preiswertes Mittel, den vorgeschriebenen Abstand zum Infektionsschutz einzuhalten. Auch Autos halten, durch Trennung der Fahrspuren, automatisch einen ausreichenden Abstand zu Radfahrenden. Sowohl Straßenverkehrsordnung, als auch Infektionsschutz erlauben die kurzfristige Einrichtung solch temporärer, effektiver Radwege. Hannover hätte hier die Chance, mit relativ wenig Aufwand, sehr schnell, sehr viel verändern zu können. Leider passiert bisher nichts. Es scheint fast so, als braucht Hannover endlich einen eigenen Radentscheid.
Eine Verkehrswende lässt in Hannover nach wie vor auf sich warten.
Die Poolnudeln hatten wir übrigens so befestigt, dass sie ca 1,20m bis 1,30m von der Fahrradmitte nach links in den Straßenraum ragten. Also deutlich unterhalb des vorgeschriebenen Abstandes von 1,50m, der von der Lenker-Außenseite des Fahrrades zum Außenspiegel der Autos gemessen wird.
Einen Beitrag zu unserer Poolnudel-Aktion gibt es bei Hannover h1, 0511: https://www.youtube.com/watch?v=i2SffaWTDkw&feature=youtu.be
PL 02.06.2020